Politik

„IS-Gefangene? Isolieren, Essen und Besuche knapp halten“

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Ahmad Koye ist General – und wundert sich wie viele Kurden über Deutschlands laxen Umgang mit IS-Kämpfern. Ein Besuch in der Kurdischen Autonomieregion in Irak.

Ein Soldat der kurdischen Peschmerga 2015 im Anti-IS-Kampf vor Mossul.

In der Steppe vor Erbil tauchen Stacheldrahtzäune auf, dann ein Checkpoint aus Metallplatten und ein Schlagbaum. Dahinter Fahnenmaste, Geländewagen, staubbedeckte Container. In diesem schlichten Camp, mitten in Nordiraks kurdischer Autonomieregion, sind die Zerevani stationiert. Das ist jene Truppe, die fast immer an vorderster Front steht. Beim Sturm auf Nester des „Islamischen Staates“, bei der Befreiung Mossuls.

Seit der IS kein Territorium mehr kontrolliert, sind die klaren Fronten verschwunden. Der Kampf, den die Zerevani führen, ist ein anderer geworden. Einer um Stabilität. Und er reicht bis nach Europa. „Wir sind wachsam“, sagt Ahmad Koye. „Und vielleicht entschlossener als unsere Kollegen in Europa.“

Koye ist General und sitzt im zentralen Container des Camps an einem Schreibtisch. 50 Jahre, Glatze, sanfter Händedruck. Koye befehligt 20.000 der derzeit 60.000 aktiven Zerevani. Formal gehört die Truppe zu den Peschmerga, der kurdischen Armee. Praktisch konzentriert sie sich auf den Antiterrorkampf.

Der General sagt, Europa ist vor dem IS nicht sicher

Die Bundesregierung berät derzeit, wie sie mit den aus Deutschland stammenden IS-Tätern umgehen soll. BND-Agenten befragen in den von Kurden bewachten Gefängnissen in Syrien und dem Irak einsitzende Dschihadisten. Letztlich muss das Bundeskabinett entscheiden: IS-Täter zurückholen – oder der örtlichen Justiz überlassen? Vor dieser Frage stehen Regierungen überall in Europa. Jene, die sich in der Region seit Jahren gegen die Dschihadisten verteidigten, registrieren mit Sorge, wie zögerlich das Problem in Europa angegangen wird.


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„Viele IS-Männer leben – und wurden nicht geschnappt“, sagt General Koye. Ihr Netzwerk ist nicht zerschlagen. Kurdische Beamte und westliche Diplomaten berichten, zwei Autostunden südlich von Erbil griffen IS-Zellen regelmäßig vermeintliche Ungläubige an: Um Hawidscha operieren sie nachts in Fünfer- oder Sechsergruppen aus Verstecken heraus. „Die IS-Zellen haben Kontakt zu Sympathisanten in den arabischen Städten“, sagt Koye. „Und es gibt viele von ihnen.“ Das bedeute, Kurdistan sei noch nicht sicher – Europa auch nicht. Doch während man in Kurdistan wachsam sei, habe er den Eindruck, der Westen sei nachlässig. Dort wachse der IS, in Haftanstalten, in abgeschotteten Milieus.

Kurdische Autonomieregion in Irak. Die meisten Kurden leben im Südosten der Türkei.

Verfahren, die im Westen sonst vielleicht Rechtsfrieden herstellten, davon sind in Kurdistan viele überzeugt, seien für das Phänomen IS ungeeignet. Für dessen Schergen reichten die in Deutschland üblichen Strafen nicht. Sie könnten sogar dazu beitragen, dass die Dschihadisten erneut zu Tätern werden. „Die führten das brutalste Terrorregime unserer Zeit“, sagt Koye. „Deutsche Gefängnisse sind für sie wie ein Schulausflug, auf dem sie sich mit Gleichgesinnten austauschen.“ Koye wundert sich, als er hört, dass die deutsche Justiz das Auswandern in das IS-Herrschaftsgebiet nicht bestraft, sondern erst die Beteiligung an Raub, Vergewaltigung, Mord.

Für Verurteilungen reichten, sagen deutsche Juristen, sogar die unter Islamisten üblichen Internetposts nicht. Weil jemand mit Gräueltaten prahlte, muss er sie nicht begangen haben. Ein Berliner Strafrechtler sagt: „Tausende Kilometer vom Tatort in einem deutschem Gericht, meist ohne anwesende Zeugen, wird man nur ganz wenigen IS-Leute verurteilen können.“

Kurden fordern ein UN-Sondertribunal

General Koye plädiert dafür, auch ausländische IS-Leute vor Ort zu verurteilen. Die Dschihadisten haben hier geraubt, gefoltert, getötet – sie sollten hier angeklagt werden. So könnte womöglich auch mit IS-Gefangenen aus Syriens kurdischer Autonomiezone verfahren werden. Schließlich waren viele IS-Männer nicht nur in Syrien, sondern auch im Nordirak aktiv. Einzelne Abgeordnete aus dem kurdischen Parlament wünschen sich ein UN-Sondergericht. Das könnte sich am Tribunal zu Ruanda orientieren. Bis dahin würde es zwar dauern, sei aber sinnvoll, da die IS-Gefangenen aus 40 Ländern stammen.

Unklar ist, wie viele IS-Angehörige aus Deutschland in Syrien und dem Irak inhaftiert sind, bislang weiß die Bundesregierung von fast 90 Männern und Frauen, es dürften weitere dazukommen. Einige wurden schon in Bagdad verurteilt; mindestens ein Mann zum Tode.

Ahmad Koye kämpfte als Zerevani-General an der Front gegen den IS.

In den Kurdengebieten wird die Todesstrafe nicht vollstreckt. Die Menschenrechtler von Human Rights Watch sind dennoch überzeugt, dass im Antiterrorkampf auch hier Grenzen überschritten worden seien. So habe der Asayish – Kurdistans Geheimdienst – im Sommer 2017 mutmaßliche IS-Kämpfer in Laster verladen, in denen einige erstickten. Die anderen seien zu Gräben gefahren, erschossen, verscharrt worden.

General Koye hat gelernt, vieles der Sicherheit unterzuordnen – aber auch erfahren müssen, dass das im Zentralirak anders laufen kann. Noch als irakischer Offizier war Koye in Mossul im Einsatz, also bevor sich die Islamisten dort IS nannten: „Ständig nahmen wir Terroristen fest, die nach ein paar Tagen rauskamen.“ Heute sei es kaum besser. Die arabische Gesellschaft sei kaputt, Dschihadisten kämen frei, wenn jemand dafür Beamte bezahle. „Doch Strafen müssen für alle gelten“, sagt Koye. „Nicht nur für die Armen.“

Osmanen, Perser und der IS – in Kurdistan wurde immer gekämpft

Am rechten Ärmel der Uniform trägt Koye die rot-weiß-grüne Flagge Kurdistans, am linken den Adler der Zerevani. Völkerrechtlich mag er Bürger des Irak sein, sich selbst versteht er als Bürger Kurdistans. Auch wenn er den Umgang des Westens mit ehemaligen IS-Kämpfern für naiv hält, ist er den Deutschen dankbar. Erst die von der Bundeswehr gelieferten Milan-Raketen halfen, den IS im Herbst 2014 bei seinem Marsch auf Erbil zu stoppen. Die Dschihadisten kamen mit geraubten Panzern und zu rollenden Bomben umgebauten Lastern, die Kurden hatten Gewehre. Erbils Flughafen wurde geschlossen. Viele hatten das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Wieder mal.

Schon vor dem Eroberungskrieg der Dschihadisten wurde in Kurdistan stets gekämpft. Die Peschmerga entstammen der Guerilla, die aus den Bergen heraus Osmanen und Perser bekämpfte, später Saddam Hussein. Im Iran-Irak-Krieg setzte der Diktator sogar Giftgas ein, in Halabja starben 5000 Kurden. Ab 1992 wurde Irakisch-Kurdistan von den USA durch eine Flugverbotszone vor Bagdads Armee geschützt. Als die USA 2003 das Regime stürzten, schufen die Kurden ihren De-facto-Staat.

Die meisten Kurden sind Muslime, so wie ihre arabischen, türkischen und persischen Nachbarn. Auch hier tragen die Frauen oft Kopftuch, stauen sich freitags Autos vor den Moscheen. Clans prägen das Leben, Geschäfte erfordern „Zib-Zab“– ein Alltagsbegriff, der Bestechung umschreibt. Doch während islamistische Banden im Zentralirak um Territorien und Beute kämpfen, ist Kurdistan vergleichsweise sicher – und freier. Nach Erbil geflohene Aramäer, Jesiden, Iraner berichten, dass sie in der Autonomieregion bleiben, weil sie hier toleriert würden. Von 5,9 Millionen Bewohnern sind 1,7 Millionen Flüchtlinge.

Tarek Ahmed Ibrahim ist Polizeichef von Dohuk.

Die relative Sicherheit hat einen Preis, der stete Kampf hat Spuren hinterlassen. Oft sind auch Zivilisten bewaffnet, das Land durchziehen Peschmerga-Checkpoints, wer viel zu verlieren hat, beschäftigt Leibwächter. Der langjährige Regionalpräsident Massoud Barzani war bei aller nachgesagten Korruption klug genug, Profite aus Kurdistans Ölhandel zu investieren; nach 2003 begann gar ein Bauboom. Doch auch Barzani, 72, ist gelernter Kriegsherr. Er steht der konservativen Regierungspartei PDK vor und kämpfte mit seinen Peschmerga nicht nur gegen Saddam Hussein, sondern auch gegen die innerkurdische Konkurrenz, die PUK.

Die PUK regiert heute mit. Sie ist formal eine sozialdemokratische Partei, die von der Familie des irakischen Ex-Präsidenten Dschalal Talabani geführt wird. Der Birakuji – auf Deutsch: Brudermord – genannte Konflikt zwischen PDK und PUK spaltet Kurdistan noch immer. In Dohuk hängen Barzani-Bilder und die gelben Fahnen der PDK, die alle Posten mit ihren Mitgliedern besetzt. In Sulaimaniya hängt an Brücken und Ämtern das Konterfei des 2017 verstorbenen Talabani und die grüne Fahne der PUK. Beide Parteien schufen üppige Sicherheitsapparate, auch Frauen gehören dazu. Geschätzt gibt es in Kurdistan fast 700.000 Soldaten, Polizisten, Grenzer.

“Mörder kommen bei uns nicht nach 15 Jahren frei”

Auf dem Weg nach Dohuk, zwei Autostunden westlich von Erbil, kontrollieren PDK-nahe Peschmerga an drei Checkpoints die Fahrzeuge. Manchmal wollen sie Ausweise sehen, in den Kofferraum schauen. Die Wartenden bleiben gelassen – auch wenn eine Fahrt durch das Land so deutlich länger dauert.

In Dohuk kümmert sich ein Mann um die Sicherheit, der Deutschland kennt und dessen Friedlichkeit schätzt. Anders als der General sitzt Tarek Ahmed Ibrahim, 54, in einem sandfarbenen, monumentalen Neubau an einem opulenten, kastanienbraunen Schreibtisch. Ibrahim ist Dohuks Polizeichef, Schnauzbart, gebügelte Uniform, 6500 Untergebene.

Auch Ibrahim sagt, er sehe im Westen viel Nachsicht mit IS-Kämpfern. „Mörder kommen bei uns nicht nach 15 Jahren frei.“ Den Deutschen hat seine Behörde schon geholfen. Als sie voriges Jahr den aus Kurdistan stammenden Asylbewerber Ali B. suchte, weil der in Wiesbaden die 14-jährige Susanna F. vergewaltigt und getötet haben soll, meldete sich das Bundesinnenministerium in Erbil. Von dort rief man Ibrahim an, der nach Ali B. fahnden ließ. Der Verdächtige bekam das mit, verließ panisch sein Versteck, sodass die Beamten bald Hinweise erhielten – sieben Stunden nach dem Anruf aus Erbil nahmen sie Ali B. fest.

Kadir Hama Jan (rechts) gründete Kurdistans Geheimdienst.

Sicherheit ist hier die Schlüsselfrage. Nur wenn es friedlich bleibt, kommen Investoren. Als zum Arabischen Frühling, im Dezember 2011, in der Provinz Dohuk ein islamistischer Mob assyrische Christen, Jesiden und Händler angriff, die Alkohol verkauften, nahm die Polizei die Islamisten fest. Und viele Kurden verteidigten nicht nur Christen und Jesiden, sondern demolierten Büros der extremistischen Islamischen Union Kurdistans. In den Moscheen gibt es Zuträger, die Religionsbehörde will wissen, ob gegen Christen, Jesiden, Juden gehetzt wird.

Zu jener Zeit freuten sich die Kurden über den Bauboom, darüber, dass die Welt ihre Autonomieregion als positive Ausnahme in einer gefährlichen Region zu betrachten begann. Umso heftiger war der Schock, als wegen der Belagerung durch den IS erste Investoren die Region verließen. Als Präsident Barzani dann im Herbst 2017 mit überwältigender Zustimmung über die Unabhängigkeit des Irak abstimmen ließ, zogen weitere Unternehmer ab, denn die Herrscher in Ankara und Teheran drohten mit Einmarsch. Bagdad sperrte den Luftraum und nahm den Kurden das ölreiche Kirkuk ab.

“Das ist der Preis des Friedens”

Die gealterten Helden des Freiheitskampfes stehen unter Druck. Die erst zur Wahl im Herbst 2018 angetretene „Neue Generation“ eines jungen Unternehmers gewann acht Sitze im Erbiler Parlament. Seine Anhänger sagen, dass die Sicherheitskräfte immer noch Parteimilizen seien, die das Land aufgeteilt hätten.

Kritik gibt es auch am Geheimdienst. Der Asayish – kurdisch für „Sicherheit“ – hat 2014 und 2016 von Sunniten geplante Massaker in einer Schiitenmoschee in Sulaimaniya verhindert. Der Asayish ist mächtig – 10.000 Männer und Frauen arbeiten für den Dienst.

In Sulaimaniya, Kurdistans modernster Stadt, lebt der Mann, der den Geheimdienst einst gegründet hat. Kadir Hama Jan – Mitte 50, Sakko, Jurist – empfängt in der PUK-Zentrale in der Salim Straße. Davor wachen Männer in Schutzwesten mit Maschinenpistolen. „Ich hoffe, wir brauchen das bald nicht mehr“, sagt Hama Jan. „Ich selbst habe oft Personenschutz.“ In der Parteizentrale hängen Talabani-Konterfeis, in den Regalen stapeln sich Papiere, es gibt Tee. Noch in den Bergen 1993 hatte sich Hama Jan mit PDK-Männern geeinigt, eine Organisation für Spezialaufgaben zu gründen.

Für seine Partei, sagt Kadir Hama Jan, gehöre die Forderung nach harten Strafen für IS-Täter auch mit der nach einem Mindestlohn zusammen: Man zeige der Welt, dass der Irak Chaos und Kurdistan Stabilität bedeute. Nun hoffen sie in Sulaimaniya, Erbil, Dohuk, dass die Investoren wiederkommen. Noch lebt die Region von Öl und Schafen statt von Ingenieurskunst und IT. Jobs sind selten. Ein Grund dafür, dass sich die Jugend bei den Sicherheitskräften bewirbt. „Schreiben wir 200 Stellen aus“, hatte Polizeichef Ibrahim gesagt, „bewerben sich 1000 Leute.“

Eine Region hängt vom Erfolg der Sicherheitskräfte ab. In Erbil erklärt General Koye zum Abschied noch, wie man mit den IS-Schergen umgehen solle: In kargen Zellen isolieren, Essen knapphalten, Besuche auch. „Ihrer Gesinnung wegen folterten, vergewaltigten, töteten diese Leute“, sagt Koye. „Man wird ihre Gesinnung brechen müssen. Das ist der Preis des Friedens.“

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