Gesundheit

Im Koma seit 16 Monaten: Gökhan wartet auf Fortschritte in der Medizin

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Vor 16 Monaten wurde Gökhan, 4, zum Pflegefall. Er liegt im Koma. Seine Krankheit ist so selten, dass sie nicht einmal einen Namen hat. Es gibt keine Therapie, keine Medikamente, keinen Arzt, der den Eltern Hoffnung macht. Trotzdem lassen sie sich nicht entmutigen.

Gökhan Kirac liegt seit über einem Jahr meist in der Schön Klinik in Vogtareuth, rund 80 Kilometer von seinem Münchner Zuhause entfernt, im Koma. Seine Mutter Betül ist von Sonntagabend bis Freitagnachmittag Tag und Nacht bei ihm, sein Vater am Wochenende.

Gökhan trägt sein Fußballtrikot mit dem Logo des FC Bayern München, dazu die kurze rote Hose. “Er schläft”, sagt Betül, seine Mutter, so, als habe sie ihm gerade eine Gutenachtgeschichte vorgelesen.

Doch Gökhan schläft schon sehr lange. Seit über einem Jahr. Und so lange schon wacht Betül an seinem Bett.

Damals ist Gökhan in dieser Zwischenwelt geblieben, über die man so wenig weiß. Er hat seither schwerste epileptische Anfälle überstanden und höllische Infektionen. Nur aufgewacht ist er nie wieder.

Gökhan ist jetzt vier, seine Beine sind dünn wie Schachtelhalme. Über einen Ernährungsschlauch fließt karamellfarbene Ersatznahrung durch die Bauchdecke in seinen Magen.

Nicht nur einmal sagten die Ärzte zu Betül und ihrem Mann Göksel: Verabschieden Sie sich von Ihrem Kind, es wird in den nächsten Stunden sterben. Nicht nur einmal wurden sie gefragt: “Wollen Sie in jedem Fall lebenserhaltende, lebensverlängernde Maßnahmen?” Und immer antworteten sie: “Ja. Wir werden unser Kind nicht aufgeben.”

“Keiner kann mir die Hoffnung nehmen. Ich hatte sie immer und habe sie noch”, sagt Betül. “Wir spüren, dass Gökhan kämpft. Deshalb kämpfen wir auch. Wir hoffen, dass er irgendwann aus dem Koma aufwacht, zurückkehrt zu uns”, sagt Göksel.

“Aus dem Nichts heraus”

Gökhans Krankheit ist so selten und erst seit so kurzer Zeit im Erbgut identifiziert, dass sie nicht einmal einen ordentlichen Namen hat, sondern benannt ist nach dem Gen und dem Ort auf ihm, der von der Mutation betroffen ist: DNM1Lc.1207C>T. Weltweit weiß man von fünf Kindern, die diesen speziellen Gendefekt haben. In Deutschland nur von Gökhan. Alle sind aus dem Nichts heraus erkrankt. Es gibt kein passendes Medikament, keine Therapie. Und niemanden, der eine Prognose für diese Kinder abzugeben wagt.

Als ihr Leben die dramatische Wende nahm, war Betül 30 Jahre alt, Göksel 33, Gökhan dreieinhalb und seine Schwester Senay acht. Die Katastrophe traf die Familie in einem Moment, als sie besonders glücklich war.

Antalya, 4. August 2017. Die vier fliegen in die Türkei. Sie wollen zwei Wochen Urlaub in einer Ferienanlage machen und danach nach Kayseri fahren, wo Betüls Eltern leben und von wo Göksels Eltern vor über 40 Jahren als Gastarbeiter nach Bayern kamen. Die Kiracs mögen ihr Leben in München, sie sind zufrieden mit dem, was sie haben. Göksel hat einen sicheren Job, er verwaltet das Lager in der Forschungsabteilung eines großen Unternehmens, Betül arbeitet stundenweise in einer Bäckerei. Ihr Stolz sind die beiden Kinder. Senay, zart und anmutig, Gökhan, ein kleiner Draufgänger.

Gökhan im Türkei-Urlaub, wenige Stunden bevor das Kind von einer Sekunde auf die nächste zu krampfen begann

Es ist der zweite Urlaubstag in der Türkei, Gökhan baut eifrig Sandburgen am Strand, er ist wie immer: fröhlich und laut. Abends macht Betül ihre Kinder hübsch, Gökhan trägt weiße Bermudas, Senay darf sich vor dem Essen noch ein Henna-Tattoo auf die Hand malen lassen. Ihr Bruder setzt sich neben sie. Als er wenig später aufstehen will, tragen ihn die Beine nicht mehr. Er ist müde, denkt Betül. Sie trägt ihn ins Zimmer, legt sich mit ihm aufs Bett.

“Papa, rette mich.”

“Tut dir was weh?” Gökhan zeigt auf seinen Bauch und die Beine. Sekunden später verkrampft sein Körper, beginnt unkontrolliert zu zucken. Sein Gesicht ist verzerrt, er verdreht die Augen und bekommt kaum Luft. Betül reißt ihn hoch, rennt panisch zu ihrem Mann. Gökhan flüstert zwischen zwei Krampfanfällen: “Papa, rette mich.” Der Vater weint.

Gökhans Gesicht läuft blau an, ein Krankenwagen bringt ihn in die nächstgelegene Klinik. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt ein Arzt zu den Eltern, er sagt: “Ihr Sohn hat aufgehört zu atmen. Wir mussten ihn intubieren, er wird jetzt künstlich beatmet.” Gökhan bekommt Infusionen, die Medikamente, so hoffen die Ärzte, werden die epileptischen Anfälle stoppen. Doch sie stoppen sie nicht. Noch in der Nacht wird Gökhan ins Universitätsklinikum verlegt. Betül glaubt weiter an eine Virusinfektion, Göksel weiß nicht, was er denken soll. Er hat einfach nur noch Angst.

Die Eltern dürfen nicht mehr zu Gökhan in dieser Nacht. Sie schlafen mit ihrer Tochter auf Holzbänken im Innenhof der Klinik. Am Morgen erklärt ihnen der Arzt, dass Gökhan immer noch krampfe, er sich in einem “Status epilepticus” befinde. Sie hätten Gökhan deshalb in ein künstliches Koma versetzt. “Ihr Sohn ist lebensbedrohlich erkrankt. Wir können ihn jede Sekunde verlieren.”

Auf der Intensivstation liegt Gökhan, nur mit einer Windel bekleidet, auf einem pinkfarbenen Kissen. Überall sind Überwachungsmonitore, Kabel, Schläuche. Die Eltern dürfen ihn nicht berühren, und nach zehn Minuten werden sie schon wieder weggeschickt.

“Wenn er stirbt, bekommen Sie Nachricht.”

Aber die Eltern gehen nicht weg, sie bleiben in der Klinik. Sie warten. Sie weinen. Warum Gökhan?

Gökhan mit seiner Schwester Senay

Antalya, Tag vier. Gökhan hat die Nacht überlebt, die epileptischen Anfälle konnten unterbrochen werden. Die Ärzte fragen die Eltern nach Vorerkrankungen, die auf ein bestimmtes Problem hindeuten könnten. “Da war nichts”, sagen sie. Lediglich in seiner Sprachentwicklung sei Gökhan etwas hinterher, nur selten spreche er in ganzen Sätzen.

Sie dürfen zu Gökhan, aber er ist für sie unerreichbar. Sein Körper ist merkwürdig angeschwollen, sein Kopf wirkt monströs. Betül bricht in Tränen aus. Es wird eine Kernspintomografie gemacht. “Ein Hirnödem”, sagen die Ärzte.

Die beiden sitzen im Innenhof der Klinik, als der Arzt am Abend anruft. “Ich habe schlechte Nachrichten, Ihr Sohn wird die Nacht nicht überstehen.” Nur wenige Minuten dürfen Betül und Göksel sich von ihrem Kind verabschieden. Sie küssen Gökhan und flehen: “Lass uns nicht allein.”

Minimale Reflexe

Göksel: “Ich habe unseren Verwandten gesagt, es ist zu Ende. Dann bin ich ohnmächtig geworden. Ich hab mir die Schuld gegeben: Warum sind wir überhaupt in den Urlaub geflogen?” Die nächsten Stunden harren sie vor der Intensivstation aus. Immer wieder fragen sie: “Was ist mit unserem Kind?” – “Wenn er stirbt, bekommen Sie Nachricht.”

Antalya, Tag fünf. Morgens ruft der Arzt an, er sagt, Gökhan zeige wieder minimale Reflexe, das Ödem sei zurückgegangen. Aber er sagt auch: “Hier können wir medizinisch nichts mehr machen. Wenn Sie die Möglichkeit haben, verlegen Sie ihn nach Deutschland.”

Verwandte hängen sich ans Telefon. Die Krankenkasse will die Kosten für den Rücktransport nicht übernehmen. Eine Lücke von zwei Wochen zwischen der alten und der neuen Auslandsreiseversicherung wird die Kiracs am Ende fast 30.000 Euro kosten. Freunde und Bekannte sammeln Geld, der Vater bekommt einen Kredit von seiner Firma.

Gökhan kann inzwischen selbstständig atmen – hier inhaliert er gerade nur. Es sind die Eltern, die ihm die Maske aufgesetzt haben, so wie sie ihm auch über einen Ernährungsschlauch seine Flüssignahrung verabreichen. Sie haben immer mehr Aufgaben in der Klinik übernommen und trauen sich mittlerweile zu, Gökhan zu Hause zu pflegen.

Gökhan wird in der Nacht vom 9. auf den 10. August mit seinen Eltern nach München geflogen. Um Senay kümmern sich die Großeltern, die nach Antalya gekommen sind. Die Maschine des privaten Krankentransportunternehmens ist eingerichtet wie eine Intensivstation, ein Arzt und ein Sanitäter betreuen Gökhan, der immer noch intubiert ist und im künstlichen Koma liegt. In den frühen Morgenstunden kommt er in der Kinderklinik Schwabing an.

München, 10. August. Wieder Überwachungsmonitore, Schläuche, Kabel, Katheter, und mittendrin ihr schwer krankes Kind. Die Ärzte der pädiatrischen Intensivstation sehen vier mögliche Ursachen für Gökhans Zustand: eine Stoffwechselerkrankung, eine Infektion, eine Fehlsteuerung des Immunsystems oder einen Gendefekt. Sie nehmen ihm und seinen Eltern Blut ab.

Keine Therapiemöglichkeit

Genanalysen brauchen Zeit. Erst sechs Wochen später liegt das Ergebnis vor: Gökhan leidet tatsächlich an einem Gendefekt. Der wurde nicht von den Eltern vererbt, die Mutation ist spontan aufgetreten. Die Ärzte versuchen den Eltern zu erklären, was in seinem Körper passiert. Sie sprechen von Mitochondrien, von einem Zusammenbruch der Energieversorgung der Körperzellen, von einer Nervenzellenschädigung, die den lang andauernden epileptischen Anfall zur Folge hatte. Und sie sagen auch, dass Gökhans Gehirn schweren Schaden genommen habe.

“Die ersten Monate habe ich nur geweint. Ich wollte nicht wahrhaben, was die Ärzte sagen. Ich hoffte auf ein Wunder”, sagt Betül. “Wir funktionierten wie ferngesteuert. Unsere Körper waren da, aber unsere Seelen nicht. Zwischendurch hatte ich Angst, dass sich meine Frau das Leben nimmt. Auch ich kam an meine Grenzen”, sagt Göksel.

Göksel Kirac hat ein Tretrad für seinen Sohn gebaut, damit die Gelenke nicht steif werden. Senay, Gökhans Schwester, hilft mit, seine Beine zu bewegen.

Es gibt keine Möglichkeit einer Therapie, die Ärzte können nur die Symptome behandeln, die Krampfanfälle. Göksel spricht immer wieder mit den Ärzten, Betül sitzt an Gökhans Bett, streichelt seine Hände, seine Wangen. Sie muss lernen auszuhalten, dass von ihm nichts zurückkommt.

In ihre Wohnung kehren Betül und Göksel die ersten Wochen nicht ein einziges Mal zurück, sie übernachten auf dem Klinikgelände. Verwandte bringen Kleidung, um Senay kümmern sich die Oma und eine Cousine. “Ich dachte, ich betrüge meinen Sohn, wenn ich nach Hause fahre”, sagt Göksel. “Er konnte doch jeden Moment sterben. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich dann nicht bei ihm gewesen wäre.”

München, Ende August 2017. Immer noch scheitert jeder Versuch, Gökhan aus dem Koma zu holen. Jedes Mal, wenn die Ärzte die Narkosemedikamente zurückfahren, krampft er wieder stärker. Ende September sagen sie erneut: “Es sieht schlecht aus, wir könnten ihn verlieren.”

Wichtigster Moment seit Langem

Göksel: “Ich hatte damals die Angst, dass die Ärzte bei einer so seltenen, nicht erforschten Krankheit schneller aufgeben.” Aber die Ärzte geben Gökhan nicht auf.

München, Oktober 2017. Es gelingt, Gökhan von den Narkosemitteln zu entwöhnen, ihn auf Medikamente einzustellen, die die Krampfanfälle einigermaßen unter Kontrolle halten. Göksel: “Wir dachten, nun bekommen wir endlich unseren Sohn wieder.” Doch wacher wird er nicht.

Vogtareuth, Ende Oktober 2017. Gökhans Zustand ist so stabil, dass er in die Schön Klinik im Chiemgau verlegt werden kann. Die dortige Neuropädiatrie und Neurologische Rehabilitation ist spezialisiert auf Kinder in Koma und Wachkoma. Die Eltern erhoffen sich viel von dem Aufenthalt. Aber schon nach acht Tagen muss Gökhan wieder nach Schwabing verlegt werden. Lungenentzündung.

“Es handelt sich bei Gökhans Erkrankung um eine spontan aufgetretene Genmutation. Das bedeutet, der Gendefekt ist nicht von den Eltern ererbt worden, sondern während der Embryonalentwicklung neu entstanden. Er betrifft das Erbgut der Mitochondrien. Mitochondrien sind Organellen, die in jeder einzelnen Zelle die lebenswichtige Energie für Stoffwechselprozesse bereitstellen. Funktionieren diese Kraftwerke der Zellen nicht richtig, kommt es entweder zu ganz frühen und schwerwiegenden Entwicklungsstörungen oder bei Krankheitszuständen, die mit einem erhöhten Energiebedarf einher gehen, zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung – wie im Fall von Gökhan. Die Folgen sind massenhafte Fehlfunktionen von Körperzellen und massenhaftes Absterben von Zellen des Nervensystems. Die Epilepsie ist möglicherweise nicht der Start, sondern Ausdruck der Hirnschädigung.”

Professor Dr. Steffen Berweck, Stellv. Chefarzt in der Schön Klinik Vogtareuth

München, November 2017. Völlig unerwartet öffnet Gökhan die Augen, nur halb und nur ganz kurz. Doch für seine Eltern ist es der wichtigste Moment seit Langem. Auch wenn der Blick ihres Kindes ins Leere geht. Betül: “Es passierte in der Sekunde, als ich ihn zum ersten Mal aus dem Krankenbett nehmen und im Arm halten durfte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.” Göksel: “Unsere Batterien wurden wieder aufgeladen. Wir dachten, vielleicht bekommt er doch etwas mit, hört uns, spürt uns.”

Vogtareuth, Winter 2017. Gökhan ist wieder in der Reha. Und Betül lernt schnell, übernimmt eine Aufgabe nach der anderen. Bis zu 30 Mal am Tag saugt sie Sekret aus Gökhans Nase und Mund, immer wenn das Überwachungsgerät für die Sauerstoffsättigung Alarm schlägt. Sie koppelt Flaschen mit Vitaminen, Nährstoffen, Glucose, Eiweiß und Fett an den Ernährungsschlauch, bettet Gökhan alle zwei Stunden um, Tag wie Nacht, und mit ihm seine Kuscheltiere, den Pinguin und die Kuh. Sie schläft bei ihm im Zimmer. Nie fährt sie in den Ort oder zum Supermarkt, nie geht sie spazieren. Sie will bei Gökhan sein, immer.

Selbstmordgedanken

Vogtareuth, Anfang März 2018. Ausgerechnet als eine Infektion für die nächste Krise sorgt, ist Betül nicht bei ihm. Sie liegt selbst im Krankenhaus, mit einer rheumatischen Erkrankung. 34 Anfälle bei Gökhan notiert der Vater an einem Tag in seinem Notizbuch. Er fühlt sich hilflos ohne seine Frau, hat Selbstmordgedanken. Die Ärzte legen ihn in einen überwachten Raum unweit seines Sohnes.

Göksel: “Als ich da lag, rief meine Tochter an, sagte: Papa, kommst du bald nach Hause? Ich brauche dich! Da hat es klick gemacht bei mir. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Senay nicht angerufen hätte.”

Gökhan wird von Antalya nach München geflogen

Gökhan hat hohes Fieber, sein Körper ist angeschwollen. Die Ärzte fragen für den Notfall: “Wollen Sie in jedem Fall lebensverlängernde Maßnahmen?” – “Leidet er?” – “Wir denken nicht.” – “Dann wollen wir, dass intensivmedizinisch alles gemacht wird. Wir geben ihn nicht auf.” Gökhan wird wieder nach Schwabing gebracht, in die Kinderklinik.

In diesen Tagen wird Göksel manchmal gefragt, ob es nicht besser für Gökhan wäre, wenn er sterben würde. Er antwortet nie. Weil die Leute kein Recht haben, denkt er, ihn das zu fragen.

München, 18. März 2018. Gökhan wird an diesem Tag vier Jahre alt. Noch immer liegt er in Schwabing, noch immer geht es ihm schlecht. Er bekommt trotzdem eine Geburtstagstorte von seinen Eltern, mit einem aufgemalten Traktor. Und über seinem Bett hängen Luftballons.

“Never give up”

Wird es einen fünften Geburtstag geben? Einen zehnten? Göksel verbietet sich solche Gedanken. Stattdessen druckt er T-Shirts mit der Aufschrift “never give up” und richtet eine -Seite ein, “#TeamGökhan”. Darauf fragen er und Freunde: “Wer kennt jemanden, der ihm helfen kann?”

Das verwaiste Bett von Gökhan daheim in München

Göksel wendet sich an Neurologen und Genforscher in Europa, Israel, Russland und den USA. Er verschickt Hunderte von s. “Die deutschen Ärzte sagen, es gebe nichts mehr, was sie noch versuchen könnten”, schreibt er. Seine Hoffnung: dass doch irgendwo auf der Welt ein Arzt sitzt, der Gökhans Schicksal zu seiner Sache macht, etwas Bahnbrechendes erforscht. Doch mit jeder abschlägigen Antwort macht sich mehr Verzweiflung breit. Dass in der Forschung nichts schnell geht, dass es Zeit, Geld, Zulassungsverfahren für neue Medikamente braucht, will er lange nicht wahrhaben. Auch nicht, dass seltene Krankheiten wie die von Gökhan eher nicht erforscht werden: zu wenige Fälle für große Studien, zu kleine Absatzmärkte für die Pharmafirmen.

Vogtareuth, Anfang Mai 2018. Gökhan ist zurück in der Schön Klinik, er atmet wieder selbstständig. Die Eltern sind 24 Stunden bei ihm, Betül von Sonntagabend bis Freitagnachmittag, dann löst Göksel sie ab, und Betül fährt zu Senay nach München. Aber die Situation wird immer schwieriger. Göksel: “Wir haben kein Familienleben mehr. Wir spielen nur noch Familie. Aber wir machen das für Gökhan. Wir haben das so entschieden: Er soll nie alleine sein.”

Senay ist inzwischen neun und noch stiller geworden. Schattenkinder werden die Geschwister von kranken Kindern genannt. Manchmal fragt Senay ihre Mutter: “Muss ich auch krank werden, damit du dich um mich kümmerst?”

“Aktuell besteht leider keine Aussicht auf bahnbrechende Forschungsergebnisse zu dieser speziellen Mutation, die Gökhan helfen könnten. Zurzeit werden diese Fälle nur gesammelt und beschrieben. Der erste Fallbericht stammt von 2016, es sind außer Gökhan bislang erst vier Patienten mit der identischen Mutation bekannt – eine verlässliche Prognose ist damit nicht möglich. Wenn er keine schweren Infektionen mehr bekommt oder im Rahmen eines schweren Krampfanfalls verstirbt, kann es gut sein, dass Gökhan noch einige Jahre mit dieser Erkrankung lebt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er noch einen etwas höheren Wachheitsgrad erreicht, aber es wäre aus medizinischer Sicht ein Wunder, wenn er noch einmal richtig kommunizieren könnte. Sein Gehirn hat inzwischen zu großen Schaden genommen.”

Privatdozent Dr. Hendrik Jünger, Stellv. Leitender Oberarzt in der Kinderklinik Schwabing

Vogtareuth, Anfang September 2018. Täglich arbeiten Logopäden, Ergo- und Physiotherapeuten mit Gökhan. An guten Tagen hat der Vierjährige nun die Augen für einige Stunden offen. Nicht ganz, aber doch so weit, dass man sieht: Sie sind grün-blau. Und manchmal röchelt er leise. “Dann denke ich, er will uns vielleicht etwas sagen. Und auch wenn sein Blick ins Leere geht: Für mich ist das ein Signal, dass sich sein Zustand noch weiter verbessern könnte”, sagt Betül.

Wie soll es weitergehen?

Göksel: “Die Ärzte haben gesagt: Er wird nicht überleben. Aber Gökhan ist noch da. Sie haben gesagt: Er wird nie wieder die Augen aufmachen. Aber er hat sie aufgemacht. Er wird nie wieder husten. Er hustet. Er wird nie wieder schlucken. Er schluckt. Ich sage: Gökhan kämpft. Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn.”

Vogtareuth, Mitte September. Die Klinik lädt die Eltern zum “Jahresgespräch”. Neben Professor Steffen Berweck sitzen Oberarzt Hendrik Jünger aus der Kinderklinik Schwabing und ein Vertreter des Kinderpalliativzentrums Großhadern mit am Tisch. Es geht um die Frage: Wie soll es weitergehen? Gökhan sei kein Fall fürs Palliativzentrum, ist die Meinung der Ärzte. Die Eltern sind erleichtert.

Seit die Medikamente reduziert werden, hat Gökhan die Augen immer öfter offen

Der Palliativmediziner bietet aber an, dass ein Team aus dem Zentrum – ein Kinderarzt, eine Kinderkrankenschwester und der Sozialdienst – die Familie ambulant unterstützen könnte, wenn sie Gökhan zu Hause pflegen will. Die Ärzte fragen: “Trauen Sie sich das zu? Haben Sie die Kraft?” “Ja”, sagen die Eltern. “Wenn wir eine größere Wohnung gefunden haben.” Denn in ihrer jetzigen – 2,5 Zimmer, 62 Quadratmeter, zweite Etage, ohne Aufzug – hätten ein Intensivpflegebett, die Überwachungsgeräte und zumindest ein Tisch und ein Stuhl für den Pflegedienst keinen Platz.

Göksel sucht längst nach einem neuen Zuhause für seine Familie, auf mehrere sozial geförderte Dreieinhalb- und Vierzimmerwohnungen hat er sich beworben, aber zu keiner einzigen Besichtigung ist er bislang eingeladen worden. Trotz Einstufung in Dringlichkeitsstufe 1 beim Wohnungsamt. Zu viele Bewerber auf zu wenige Wohnungen.

Die Familie auf dem Gelände der Klinik in Vogtareuth. Ohne Überwachungsgerät im Gepäck ist kein Spaziergang möglich.

Betül sagt: “Ich möchte so gern nach Hause. Ich vermisse meine Tochter. Sie braucht mich auch.” Aber ohne größere Wohnung kann die Familie nicht wieder zusammenleben. München, 17. September 2018. Göksel Kirac ruft in der Redaktion an. Er ist aufgeregt. Das Phenobarbital, eines der stärksten Medikamente, das besonders schläfrig macht, soll reduziert werden. Langsam, in winzigen Schritten. Die Ärzte wollen das trotz des immer noch bestehenden Status epilepticus nach einem Jahr Koma versuchen. “Endlich”, sagt der Vater. “Ich habe mir das immer gewünscht, aber jetzt habe ich auch Angst. Denn nun wird sich zeigen, ob Gökhan wach wird oder zumindest wacher.”

Zwischen Koma und Wachkoma

Mitte November 2018. Gökhan sei tatsächlich etwas wacher geworden, finden die Eltern. Manchmal könne man denken, er reagiere auf ihre Stimmen, bewege die Augen in ihre Richtung. Doch die Ärzte bewerten diese Phänomene sehr zurückhaltend. Sie sprechen nun immerhin von einem Zustand zwischen Koma und Wachkoma, in dem Gökhan aber auch dann bleiben könnte, wenn die Medikamente weiter reduziert werden. Und sie verweisen darauf, dass sich die Hirnschäden seit dem Ausbruch der Krankheit weiter verschlimmert haben.

Nichts wünschen sich die Kiracs sehnlicher, als wieder zusammensein zu können. Aber dafür brauchen sie eine bezahlbare größere Wohnung.

Seit 16 Monaten leben Göksel und Betül Kirac nun mit dieser Ungewissheit. Göksel sagt: “Wir müssen Geduld haben. Unser größter Wunsch ist natürlich, dass Gökhan wieder mit uns kommunizieren kann. Egal, wie. Vielleicht nur mit den Augen. Vielleicht kann er aber auch die Hand heben. Oder sogar noch viel mehr. Aber auch wenn das nicht passieren sollte: Wir werden ihn immer so akzeptieren, wie er ist. Mit ihm leben, wie er ist. Hauptsache, er ist bei uns. Gökhan braucht uns. Und wir brauchen ihn.”

Die Geschichte über Gökhan und seine Familie erschien am 19. Dezember 2018 im stern. Kurz darauf bekam der Vierjährige erneut eine schwere Infektion und musste auf die Kinderintensivstation des Klinikums Traunstein verlegt werden. Dort wurde er vorübergehend intubiert. Inzwischen atmet er wieder selbständig und liegt  auf der normalen Kinderstation  in Traunstein. Die Familie sucht nach wie vor dringend eine bezahlbare drei- bis dreieinhalb Zimmer-Wohnung in München, mit Aufzug oder im Erdgeschoss. Ihre aktuelle Wohnung liegt im zweiten Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl und ist eigentlich zu klein, um dort ein Kind im Wachkoma rund um die Uhr mit Hilfe eines Pflegedienstes zu versorgen.

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