Politik

Warum sich die SPD mit der Erneuerung so schwer tut

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Parteichefin Nahles will die SPD neu aufstellen – programmatisch, personell und organisatorisch. Wie weit ist sie damit bisher gekommen?

SPD-Chefin Andrea Nahles in Berlin. Foto:imago/Gerhard Leber

Diesen Moment haben die Sozialdemokraten dringend gebraucht – für das Selbstwertgefühl: SPD-Chefin Andrea Nahles steht auf der Bühne und strahlt übers ganze Gesicht. Es ist Anfang November, gerade geht das „Debattencamp“ der SPD im Funkhaus Berlin zu Ende. Zwei Tage lang haben 3000 Genossen diskutiert, wie sie ihre Partei „erneuern“ wollen. Zum Abschluss der Veranstaltung reißt Nahles auf dem Podium die Arme hoch und wippt auf den Zehenspitzen energisch vor und zurück. Ihr ganzer Körper bebt. Begeistert ruft sie: „Spaß hatt’ ich! Spaß! Jawohl!“ Das Publikum jubelt der Parteichefin zu.

Kaum spürbare Fortschritte der Parteireform

Die SPD ist nicht wiederzuerkennen an diesem Nachmittag. Spaß? Das hat es über Monate nicht mehr gegeben bei den Sozialdemokraten. Stattdessen lange Gesichter an Wahlabenden und jede Menge Frust in den Landesverbänden – über die große Koalition in Berlin, vor allem aber über die eigene Parteiführung. Die hat fest versprochen, die SPD von Grund auf zu reformieren, sie inhaltlich und organisatorisch völlig umzukrempeln.

Nun läuft der „Erneuerungsprozess“ bereits ein Jahr – jedoch ohne öffentlich spürbare Fortschritte. Viele Genossen haben den Glauben an die Parteireform längst verloren. Sie könnten das Wort „Erneuerung“ schon nicht mehr hören, heißt es von den Ortsvereinen bis hinauf in die Bundestagsfraktion. Auch viele Vorstandsmitglieder wollten endlich Ergebnisse sehen, erzählen Insider. Hinter den Kulissen wird immer lauter gefordert, „etwas Anständiges zu Papier zu bringen“. Zu viele halbgare Ideen ständen im Raum. Es fehle ein vernünftiges Konzept, lautet die Kritik.

Die Ungeduld der Genossen wächst. Und damit auch der Druck auf Nahles. Die musste bereits eingestehen, dass das Versprechen von der „Erneuerung“ bei den Bürgern nicht ankomme. Die SPD habe sich der Parteireform in aller Ruhe widmen wollen, sagte Nahles im Oktober – und schob nach den verlorenen Wahlen in Bayern und Hessen hinterher: „Ich stelle fest: Diese Zeit haben wir nicht.“

Im kommenden Jahr muss die SPD eine ganze Reihe an Wahlkämpfen stemmen: Die Abstimmung zum Europaparlament und die Bremer Landtagswahl stehen schon im Mai an, hinzukommen Kommunalwahlen in mehreren Bundesländern und im Herbst drei Landtagswahlen in Ostdeutschland. „Die SPD muss dafür kampagnenfähig sein“, sagt eine Bundestagsabgeordnete. „Aber wie soll das gehen, wenn man alles an sich in Frage stellt?“ Keiner will eine Partei wählen, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist.

Muss Nahles im Mai gehen?

Es ist ein Teufelskreis: Um wieder Wahlen zu gewinnen, muss sich die Sozialdemokratie verändern. Doch genau dieser Prozess gefährdet ihren Wahlerfolg. „Es kann sein, dass die SPD den Punkt bereits verpasst hat, an dem sie das Ruder noch herumreißen kann“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Poguntke von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Geht die Europawahl schief, muss Nahles vielleicht schon im Mai ihren Posten räumen – bevor sie den „Erneuerungsprozess“ zu einem Abschluss bringen kann.

Der ist für Ende 2019 vorgesehen. Dann soll ein Bundesparteitag die Neuausrichtung der SPD besiegeln. Zur Zeit befindet sich der Prozess in der Halbzeit. Die Parteiführung will eine Zwischenbilanz ziehen: An diesem Freitag kommen dafür die Fachleute der vier parteiinternen „Lenkungsgruppen“ ins Willy-Brandt-Haus, um dem Vorstand Reformvorschläge vorzulegen. Juso-Chef Kevin Kühnert ist dabei, genauso wie Vize-Kanzler Olaf Scholz, aber auch die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor und der Unternehmer Harald Christ.

Über Monate haben sie Ideen aus den „Gliederungen“ der SPD gesammelt, sich bei Ortsvereinen und Kreisverbänden umgehört. Das Willy-Brandt- Haus hat per Online-Umfrage ermittelt, worüber die Mitglieder reden wollen. Es ist eine Flut an Vorschlägen herausgekommen. 5000 Ideen habe man gesammelt, sagt Generalsekretär Lars Klingbeil.

Trauma-Thema Hartz IV

Ganz oben auf der Wunschliste stehen Klimaschutz und Grundeinkommen. Aber natürlich wollen viele Genossen auch über das Trauma-Thema der Sozialdemokraten reden: Hartz IV. Nahles hat bereits dessen Abschaffung angekündigt. Der rechte Flügel hält nichts davon. Bei einer Klausurtagung im Februar will die SPD-Spitze entscheiden, wie sie damit umgeht.

Nahles wird eine kluge Strategie brauchen. Dass die Partei eine Frischekur benötigt, ist zwar Konsens in der SPD. Doch inhaltliche oder gar persönliche Zugeständnisse will kaum jemand machen. „Alle sind für die Erneuerung – bis es sie selbst betrifft“, hört man immer wieder in Parteikreisen.

Das bringt Nahles von einer Zwickmühle in die nächste: Geht sie auf die Migrationsskeptiker in der Partei zu, hagelt es Angriffe von links. Setzt sie die Interessen der Bundestagsfraktion durch, sträubt sich die Basis. Folgt die Parteichefin einem Vorschlag der Jusos, rebellieren die Alten. Beispielhaft für Nahles’ Dilemma war ihre Entscheidung im November, als sie eine eigene Kandidatenliste für die Europawahl vorschlug – nach der Maßgabe „jünger und weiblicher“. Sofort wurde ihr undemokratisches Verhalten vorgeworfen. „Es ist besorgniserregend, wie groß die Bereitschaft in der Partei ist, auf die Führung loszugehen“, sagt einer aus dem Bundestag, der das Innenleben der SPD gut kennt.

Enttäuschung programmiert

Der Fall zeigt, dass Nahles zwangsläufig einen Teil der Genossen gegen sich aufbringen muss, wenn sie die Parteireform ernst nimmt. Auf Widerstand sei man eingestellt, heißt es dazu im Willy-Brandt-Haus. Klar ist ebenfalls, dass Enttäuschungen programmiert sind – auch bei den Wählern.

Darauf spielte Juso-Chef Kühnert im Mai an, als er Generalsekretär Klingbeil fragte: „Wie oft habt ihr euch eigentlich schon in den Hintern gebissen, dass ihr den Prozess SPD erneuern’ genannt habt?“ Klingbeil wiegelte ab. Dass der Begriff „Erneuerung“ zu hohe Erwartungen wecken könnte, lässt sich aber nicht von der Hand weisen.

Das sieht auch der Politologie-Professor Poguntke so. „Keine Partei kann sich völlig neu erfinden“, sagt er. Nur wenn die SPD es schaffe, klare Positionen, statt nur halb ausgebrütete Ideen zu entwickeln, könne ihr die Wende gelingen. Mit dem Godesberger Programm von 1959 habe es die Sozialdemokratie schon einmal vorgemacht, sagt Poguntke. Damals habe der Prozess allerdings zwei bis drei Jahre gedauert. Der heutigen SPD könne nur eine „neue Führungsfigur“ helfen, meint Poguntke. Die dürfe aber nicht wie bisher „im Hinterzimmer“ gekürt werden, sondern in einem offenen Wettbewerb – wie in der Union: „Da kann die SPD von der CDU lernen.“

Spaß machen dürfte das den Genossen aber nicht.

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