Politik

Es hat schon ganz schön geruckelt in Deutschland

0

Roman Herzogs Rede ist fast 20 Jahre her – das merkt man. In einigem lag er richtig, in manchem aber auch falsch. Ein Kommentar.

Roman Herzog bei seiner Berliner Rede 1997.

1999 schied der verstorbene Alt-Bundespräsident Roman Herzog aus dem Amt. Die viel zitierte Ruck-Rede hatte er er am 26. April 1997 gehalten. Bis heute gilt diese kritische Zustandsbeschreibung als Weckruf für ein zu sehr mit sich selbst und seinen Sorgen beschäftigtes Land. Gilt als Mahnung, sich den Herausforderungen der globalisierten Welt zu stellen. Viele sahen in dieser Ansprache im Hotel Adlon später den Vorboten jener Agenda 2010, mit der der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder die dringend gebotenen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem erzwingen wollte. Aber ist die Herzog-Rede für uns Heutige noch immer eine Botschaft von gewisser Aktualität?

„Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft. Dabei stehen wir wirtschaftlich und gesellschaftlich vor den größten Herausforderungen seit 50 Jahren: 4,3 Millionen Arbeitslose, die Erosion der Sozialversicherung durch eine auf dem Kopf stehende Alterspyramide, die wirtschaftliche, technische und politische Herausforderung der Globalisierung… zum ersten Mal werden auch diejenigen, die bisher noch nie von Arbeitslosigkeit bedroht waren, von Existenzangst für sich und ihre Familien geplagt“

Die Arbeitslosigkeit sank

Die Realität des Jahres 2017 sieht anders aus. Die in Deutschland Lebenden bekommen wieder mehr Kinder. Die Arbeitslosigkeit sank, bei etwa gleich großer Bevölkerung, auf 2,69 Millionen, nicht zuletzt dank der Schröder‘schen Reformen – und auch, weil etwas geschah, was Herzog in seiner Rede ausdrücklich verurteilte: massives staatliches Eingreifen. Denn ohne das entschlossene und konzertierte politische Handeln der großen Koalition in den Jahren der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, 2008 und 2009, wäre Deutschland niemals als Primus aus diesem durchaus befürchteten Horrorszenario heraus gekommen. Viel der heutigen wirtschaftlichen Stärke des Landes ist auf die Konjunkturprogramm I und II und auf die Abwrackprämie zurückzuführen – und auf ein verantwortungsvolles Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Da erwies sich die deutsche Zivilgesellschaft als weitaus konsensfähiger, als Herzog es ihr zehn Jahre zuvor zutraute hatte.

Aber die Herausforderung der Globalisierung stellt sich heute immer noch, und vielleicht sogar noch intensiver, denn von den Wanderungs- und Fluchtbewegungen von Millionen Menschen nach Europa und vor allem nach Deutschland konnte Roman Herzog 1997 nichts wissen.


Kostenlos bestellen

Er zeichnete ein idealisiertes Bild von Deutschland 2020

An einem hat sich nichts geändert – am ritualisierten Umgang mit Veränderungsforderungen. Dazu der Wortlaut von 1997: „Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde. Die Medien melden eine Welle „kollektiver Empörung“. Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen. Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen…. Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert. Nunmehr erschallen Appelle zur Besonnenheit. Am Ende steht die Vertagung des Problems.“

Roman Herzog hatte in seiner Rede auch versucht, sich ein Deutschland des Jahres 2020 vorzustellen. Es ist ein sehr idealisiertes Bild, das er da zeichnete: Eine Gesellschaft, in der der Einzelne mehr Verantwortung übernimmt; eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist; mehr Mobilität und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt; eine Informations- und Wissensgesellschaft; lebenslanges Lernen; mehr Solidarität; ein Europa der kulturellen und politischen Identität; ein Deutschland, das seine internationale Verantwortung wahrnimmt. Erstaunlich viel davon ist Realität geworden oder auf dem Weg dahin, mit einer großen Ausnahme: von europäischer Identität sind wir weiter entfernt als 1997. Aber mehr Solidarität? Die Empathie, mit der sich viele tausend Menschen um die Flüchtlinge kümmern, ist ein schönes Beispiel dafür. Mobilität am Arbeitsplatz? Vielen blieb gar nichts anders übrig. Lebenslanges Lernen? Heute viel selbstverständlicher als vor 20 Jahren – und Herzog wusste noch nichts von der Entwicklung des Internets. Internationale Verantwortung? Deutschland ist heute, durch Bundeswehr und freiwillige Helfer, global engagierter denn je.

Es hat also, nimmt man alles zusammen, seit 1997 ganz schön geruckelt in Deutschland. Lag es an der Ruck-Rede? Sicher ist: Ohne Roman Herzog hätte niemand vom Ruck geredet, der durch unser Land gehen muss.

Wohlfahrtspolitik allein sichert nicht die Demokratie

Previous article

Über “idiotisierte” Debatten und fehlenden Mut

Next article

You may also like

Comments

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

More in Politik