Wirtschaft

Aufziehender Sturm

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Autoindustrie im Umbruch und SPD am Boden – auf die IG Metall und ihren neuen Cheflobbyisten kommen schwere Zeiten zu

Eine IG-Metall-Flagge spiegelt sich in einem Fahrzeugdach. Die größte deutsche Gewerkschaft ist am stärksten in der Autoindustrie…

Einen Mann, der sich Mitte der 1980er Jahre in seiner Diplomarbeit mit der Europäischen Integration unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Währungskrise befasst hat, erwartet man nicht unbedingt auf einem Spitzenposten der IG Metall. Doch der Politikwissenschaftler Uwe Meinhardt hat sich im Laufe der Jahrzehnte in diversen Funktionen in der Gewerkschaft bewährt – warum also nicht auch als Cheflobbyist in Berlin.
Der Leiter des Bereichs Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik sitzt in der hiesigen IG-Metall-Zentrale an der Alten Jakobstraße in Kreuzberg und bemüht sich mit knapp 20 Mitarbeitern um Gehör im hauptstädtischen Politikbetrieb. Und er befasst sich eben mit Zukunftsfragen der Metallergewerkschaft, die wie keine andere Großorganisation von Digitalisierung und Mobilitätswende betroffen ist. „Die ganze Welt ändert sich, auch die IG Metall muss sich verändern“, sagt Meinhardt im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Aber wie? Und wer sind die politischen Spielpartner, wenn die SPD von den Grünen ersetzt wird? Immerhin: Vertreter der Grünen suchen zunehmend das Gespräch mit der größten deutschen Gewerkschaft, erzählt Meinhardt.

Großes Misstrauen gegen die Grünen

Gerade auf die Grünen haben Metallgewerkschaft und Metallarbeitgeber über die Jahre mit Misstrauen geschaut, denn die Sozial- und Tarifpartner verdanken ihre Stärke maßgeblich der Autoindustrie, für die Grüne seit jeher Folterinstrumente parat haben: vom Tempolimit über höhere Spritpreise bis zu CO2-Zielen, die technisch und zu überschaubaren Kosten kaum erreichbar sind. Jetzt stehen die Grünen vor der Regierungstür und „die Wirtschaft ist mit der Groko durch“, wie es beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall heißt. Und nachdem der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg die Bedeutung von Daimler und Porsche, Bosch und Mahle und vielen anderen Autolieferanten für das Ländle verstanden hat und entsprechend regiert, hat sich die Angst vor Grün bei den Arbeitgebern etwas gelegt.


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Angst um die Autoindustrie

Die IG Metall ist vor allem eine Gewerkschaft der Autoindustrie, und deshalb trifft sie die Transformation dieser Leitbranche ganz besonders. „Die Situation ist potenziell dramatisch“, sagt Uwe Meinhardt. Andere in der Gewerkschaft befürchten massive Einschläge in den kommenden zwölf Monaten – Entlassungswellen bis hin zu Werksschließungen bei Lieferanten.
Meinhardt hat vor dem Wechsel nach Berlin die IG Metall in Stuttgart geführt, neben Wolfsburg die wichtigste deutsche Autostadt. „Die letzten zehn Jahren waren gute Jahre.“ Die Zahl der IG-Metall-Mitglieder in Stuttgart stieg von 72 000 auf 88 000. Der Vergleich mit Berlin-Brandenburg zeigt die überragende Bedeutung der Industrie für Stuttgart, denn in der um ein Vielfaches größeren Hauptstadtregion hat die Gewerkschaft nur 65 000 Mitglieder. Warum also wechselt ein Gewerkschafter aus der Hochburg der IG Metall in die industrielle Ödnis?

Die Stärke der IG Metall ist in Gefahr

Weil der Vorsitzende Jörg Hofmann gefragt hat, weil die Ehefrau den Umzug in die bunte Stadt befürwortete und weil schließlich Meinhardt „noch mal eine ganz andere Seite der IG Metall kennenlernen möchte“. Nach dem Diplom am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und ein paar Wanderjahren war Meinhardt Anfang der 1990er Jahre bei der IG Metall in Nürnberg gelandet, um sich dort als Studierter um Studenten zu kümmern. Einige Jahre später ging es weiter nach Stuttgart, wo er bei den Elitetruppen der Gewerkschaft in den Autofabriken von Sindelfingen, Untertürkheim und Zuffenhausen „eine besondere Sicht auf die IG Metall und ihre Stärke“ bekam. Diese Stärke ist jetzt in Gefahr.

Uwe Meinhardt ist Cheflobbyist der IG Metall in Berlin.

Vor anderthalb Jahren bildete Meinhardt in Stuttgart mit dem Arbeitgeberverband, der Agentur für Arbeit, den Kammern und der Wirtschaftsförderung ein Transformationsbündnis Elektromobilität. „Wir wollen die Veränderung der Autoindustrie aktiv mit vorantreiben“, sagt Meinhardt. Und zwar nicht nur am Neckar, sondern bundesweit und auch gegen Widerstände. „Es gibt eine tiefe Sehnsucht, auch in der IG Metall, dass alles so bleiben möge, wie es ist.“ Das funktioniert aber nicht. Vielmehr sei es „auch unser Job, den technischen Wandel mitzugestalten“. Der Branche insgesamt fehle „eine positive Aufbruchstimmung“ angesichts eines Dilemmas: Der Autoweltmarkt wird in den nächsten Jahren stagnieren, gleichzeitig sind erhebliche Investitionen in Antriebstechnik, autonomes Fahren und Digitalisierung erforderlich. Das Ziel der IG Metall und ihres Vordenkers Meinhardt: „Die besten Elektroautos müssen von deutschen Herstellern kommen.“ Das gelinge indes nur, wenn „man das Verdrängen stoppt. Jeder versteckt sich hinter dem anderen: Das beschreibt im Moment das Verhalten von Herstellern und Zulieferern, zum Beispiel beim Thema Batteriezellenfertigung“.

Im tiefsten Herzen Sozialdemokrat

Die Zellen kommen derzeit nur von asiatischen Herstellern, und obgleich der Markt rasant wächst, bemühen sich heimische Unternehmen erst jetzt mit Elan um eine deutsche Fertigung, nachdem die Bundesregierung eine Milliarde Euro Fördermittel ausgelobt hat.
Wie es sich für einen älteren Gewerkschafter gehört, ist Meinhardt „im tiefsten Herzen“ Sozialdemokrat: „Durch die SPD hat das Land in den 1970er Jahren einen Modernisierungs- und Demokratisierungsschub erfahren.“ Er konnte studieren, weil die Sozis unter Willy Brandt das Bafög eingeführt hatten. „Heute haben wir einen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, bei der Umwelt- und Klimaschutz die Treiber sind.“ Die Grünen profitieren davon und überhaupt von ihrer Anschlussfähigkeit in vielen Milieus.

Verteilungsfrage im Blick behalten

Der Klimawandel überstrahlt aktuell alles. Und doch: „Wo geht es eigentlich hin?“ – diese Frage stellt sich auch die IG Metall. Das betrifft die Tarifpolitik ebenso wie neue Technologien und Beschäftigungsformen jenseits des unbefristeten Normalarbeitsverhältnisses. „Wir brauchen ein neues Verständnis von sozialstaatlichen Methoden und Institutionen“, sagt Meinhard und glaubt unverdrossen an die Berechtigung eines Themas, das derzeit kaum Konjunktur hat. „Wir müssen die Verteilungsfrage im Blick behalten.“

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